“Geschichte eines Vietnamesen aus Lettland”, Cao Viet Nguyen
Seite 1
1. Hallo, mein Name ist Cao Viet Nguyen. Ich komme aus Vietnam. Seit 10 Jahren lebe ich in Lettland, dies ist meine Geschichte. / Ich kam 2003 mit der Familie meines Vaters nach Lettland. Damals träumten viele Vietnamesen davon, im Ausland zu arbeiten und zu studieren, denn sie erhofften sich davon ein besseres Leben, eine bessere Ausbildung und mehr Geld zu verdienen / Die Leute fragen mich immer: wo genau liegt Lettland? Zuerst wusste ich es selbst nicht. Später lernte ich, dass Lettland ein kleines Land im Baltikum ist und in Nordeuropa liegt. Es grenzt im Norden an Estland, im Süden an Litauen. / Hey, ich kann Lettland nicht finden!
2. In Lettland leben nur wenige Asiaten. Als ich zum ersten Mal dort ankam, waren die Leute überrascht über mein Aussehen und Herkunft. Manchmal fühlte ich mich eher wie ein Affe im Zoo. / Er hat naturschwarzes Haar. Ich möchte auch solche Haare! / Hmm... Seine Haut ist sehr braun. / Schau mal, sein Haar sieht aus wie Igelstachel. / Hey, sag was auf Chinesisch.
3. Nicht nur ich war überrascht darüber, wie die Letten auf Fremde reagieren. / Nach der Karte sind wir in Riga / Liebling, bist du sicher, dass wir nicht in Moskau sind? / Hey, Chinese! Chue Han tyu tyei... Ha ha ha... / Was haben Chinesen hier zu suchen? Idioten.
4. Nach dem II Weltkrieg und der Besetzung durch die Sowjetunion wurde 1990 die Unabhängigkeit Lettlands wieder hergestellt. Als Ergebnis sind 27 % der lettischen Bevölkerung Russen. Es gibt aber noch einen stillen Konflikt zwischen ihren Ansichten und Lebensgewohnheiten. Das hat mich schon oft sehr verwirrt. / Sprich doch lettisch, du eingebildete Kuh! Du lebst hier seit 50 Jahren, kannst aber nicht mal guten Tag auf lettisch sagen? Schäm dich! /Und du, fahr mal aus diesem Land raus und frag irgendjemand, ob er überhaupt weiss, wo Lettland ist? Russisch ist gut genug für alle Menschen hier!
Seite 2
1. Meiner Ansicht nach hat ein kleines Land auch seine eigenen Werte. Die Natur ist Lettlands Schatz. Die Wälder, die Wiesen und der schöne Fluss Daugava, der das ganze Land durchquert. Dies sind die Seelen von Lettland.
2. In Lettland finden eine ganze Reihe von Festivals statt. Das beliebteste und reizvollste ist das “Lied- und Tanzfestival”. Kaum zu glauben dass Lettland für so lange Zeit seine Tradition aufrecht erhalten konnte. Tausende von Sängern und Tänzern kommen nach Riga/ nur um zusammen zu sein und das Gefühl der Gemeinsamkeit zu teilen.
3. Es ist schön, dass die Letten in ihrer Kunst ihren traditionellen Stil beibehalten haben. Während andere Länder ihre Tradition vergessen, / arbeiten die Künstler hierzulande hart und schaffen aufsehenerregende Kunst. Sie entdecken immer wieder neue Methoden oder studieren neue künstlerische Stilrichtungen.
4. Nach einem langen Winter träumen alle Letten vom Sommer und von der traditionellen Mittsommernachtsfeier. Alle Familien treffen sich dann und tragen die typischen Mützen. In dieser Nacht schläft niemand. Alle singen traditionelle Lieder und tanzen um das Lagerfeuer.
5. Zeichnen war meine Stärke. Ich beschloss, ein Künstler zu werden und meldete mich an der Kunstschule von Ogre an. Ich studierte Zeichnen und Malerei im Atelier von Direktor Peteris Aulmanis. / Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten mit der Sprache. So konnte ich ihn nicht verstehen. Aber ich schaute zu, während er zeichnete. Ohne zu reden konnte ich verstehen, was er von mir wollte. / das Gesicht ist rund wie eine Kugel.
6. Die Sprache war das Schwierigste für mich. Jeder schaute mich komisch an. Ich verstand sie nicht. / Ich merkte, dass ihnen die Gegenwart eines Fremden Unbehagen machte.
7. Alles wurde jedoch noch schlimmer, wenn die Rassisten ihre Gefühle “ausdrücken” wollten. / Hier leben nur Letten und Russen. Hier ist kein Platz für Chinesen! / Ich bin kein Chinese. Ich bin Vietnamese. Ich lebe und studiere hier. Meine Freunde sind Letten und Russen.
8. Du Idiot! Wenn ich dich nochmal sehe, schiesse ich dich über den Haufen!
Seite 3
1. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in diesem schönen Land solche Leute gibt. Aber ich wollte nicht aufgeben. Mein Sprachstudium war der Schlüssel dazu, dass sie ihre Einstellung zu mir änderten.
2. Die Zeit verging und mein Lettisch besserte sich. Ich hatte mehr Freunde und jeder wurde freundlicher. / Hey, Kao! Wie geht es dir?
3. 2007 nach einem Streit mit meiner Familie beschloss ich allein zu leben. Ich hatte keine Bleibe und mein Lehrer Peteris schlug vor, ich könnte in seinem Atelier wohnen und manchmal seinen Studenten helfen. War es nicht ein Wunder, das seine lettische Familie mich akzeptierte? Nun spreche ich von ihm nicht als Lehrer, sondern als mein lettischer Vater.
4. Geschichte und Mythologie waren meine Lieblingsthemen. Mich interessierte auch die lettische Folklore und Mythologie. Mein Lieblingsbuch war das Epos “Der Bärentöter” von Andrejs Pumpurs. Er schrieb es im 19. Jahrhundert. / Das Epos handelt von einem Helden, eben dem Bärentöter, der die Letten im Kampf gegen die deutschen Invasoren im 13. Jahrhundert anführte. Er stand im Zweikampf dem Schwarzen Ritter gegenüber. Sie kämpften, bis beide in den Fluß Daugava fielen. Es heißt, der Geist des Bärentöters sei noch lebendig und er beschütze bis heute sein Volk. / Danach wurde der Bärentöter zum lettischen Nationalhelden. Er symbolisiert die Kraft, den Mut und die Tugend. Seine Geschichte war für ich eine grosse Inspirationsquelle. Ich hatte die Idee, dazu ein Comicbuch zu gestalten.
5. 2009 machte ich an der Jan Rozentals Kunstschule meinen Abschluss mit einer Diplomarbeit zum Thema “Die Chronik des Bärentöters”. Ich war sehr glücklich über meinen ersten Erfolg.
6. Gratuliere! Nur schade, daß Comics in Lettland noch so wenig bekannt sind. Was sind deine Pläne für die Zukunft? / Danke! Ich denke daran, nach Amerika zu gehen und Comic zu studieren. Ich möchte ein professioneller Comic-Designer werden.
7. Dann ging ich nach San Francisco, um meinen Traum wahr zu machen.
Seite 4
1. Amerika war ein Traumland. Alles dort war modern und aktiv. Ich ging in die Comicswelt und lernte neue Dinge, von denen ich nie gehört hatte.... Dann merkte ich aber... “Kann denn hier alles perfekt sein?”
2. Es gab eine Regel – selbst wenn jemand sehr talentiert ist, ohne Geld ist er nichts. / Um Kunst zu studieren, bracht man hier 30.000 USD pro Jahr.
3. Hieß das, nur Reiche werden Künstler? War das nicht unfair? Mein Freund Nick verstand meine Situation und wußte genau, was ich fühlte. / Du bist bereit, denn du hast ein Ziel. Mach einfach weiter. Denk daran, du arbeitest für die ganze Welt.
4. Nick hatte Recht. Ich beschloss, nach Lettland zurückzukehren. Dort waren viele Menschen, die ich liebte. Dies war der Ort, wo ich meine erste Anerkennung gefunden hatte. Ich wollte aus eigenen Kräften beweisen, dass ich meinen Traum wahr machen konnte.
5. Damals kämpften die Letten gegen einen unsichtbaren Feind, die Krise. / Bitte helfen Sie, wir brauchen Geld für Nahrung. Ich habe fünf Kinder und zwei Hunde.
6. Der Kampf gegen die Krise nahm den Menschen für lange Zeit jede Kraft, während die Politiker die Bedürfnisse der Menschen ignorierten. / Bürger! Glaubt mir. Wir können sagen, dass sich die wirtschaftliche Situation von Lettland enorm verbessert hat. Dies ist Lettlands große Erfolgsgeschichte.
7. Die Erfolgsgeschichte hat einen hohen Preis. Mehr als 30.000 Letten verließen ihr Land. / Auf Wiedersehen Kao. Wir gehen nach Großbritannien. Wir haben gut bezahlte Jobs dort gefunden!
8.Diejenigen, die blieben, waren gezwungen, für wenig Geld hart zu arbeiten. / 300 USD einschließlich Steuern. Wenn es euch nicht gefällt, dann geht doch. / Aber die Steuer sind 21%! Wie können meine Familie und ich davon leben? / Unsere Situation interessiert sie nicht.
9. In der Zwischenzeit verlassen viele Letten ihr Land und immer mehr Ausländer nehmen ihre Plätze ein. / Willkommen in Lettland / Hier gibt es kein Chinatown. Laßt uns eines aufbauen!
10. Die Menschen waren mit der Situation in ihrem Land unzufrieden. Ihre negativen Emotionen und ihren Zorn brachten sie im Internet zum Ausdruck. / Wer will schon in einem Land leben, wo jeden Tag Raubüberfälle stattfinden? / Das stimmt. Leider hört niemand auf die Meinung des anderen. / Nur ein Beispiel. Reiche Leute und Politiker, die mehrere Tausend Dollar pro Monat verdienen, zahlen oft nicht einmal Steuern, uns beschimpfen sie aber als faul, beuten uns dabei aus und selbst arbeiten sie nicht und zahlen nicht. / Wir dagegen schuften wie Sklaven für wenig Geld. Das ist die Hölle! / Warum gehen die Leute hier nicht auf die Straße und versuchen etwas zu ändern? Die Menschen klagen nur, tun aber nichts. / Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass dies mein Land ist. Keine Hoffnung, kein Geld.
Seite 5
1. Ich habe an der Kunstakademie in Riga studiert. Dort brauchen Studenten nicht für ihr Studium zu bezahlen. Ich dachte, mein Leben würde einfach so weitergehen, aber ich habe mich getäuscht. Mein Geld reichte nicht zum Leben und um das Material zu bezahlen. Nach zwei Jahren gab ich das Studium auf.
2. Zum ersten Mal im Leben war ich deprimiert. Meine Familie verließ Lettland auf der Suche nach besserer Arbeit. Einige Ateliers boten mir Arbeit an, aber sie konnten mir nicht viel bezahlen wegen der Krise. / Tut mir leid, Kao. Wir haben für das Projekt selbst nicht genug Geld bekommen. So ist dies alles, was wir dir im Moment zahlen können.
3. Die Letten haben viele unterschiedliche Meinungen. / Wir können nicht das Durchschnittsgehalt gerade jetzt anheben. Vielleicht ginge es nach dem nächsten Jahr ... vielleicht. Vergeßt nicht, wir haben die große Erfolgsstory von Lettland.
4. Meine Kinder wollen nicht nach Hause zurück. Sie sagen, dort verdienen sie fünfmal mehr als in Lettland. Ich bin so einsam.
5. Ich bin entlassen worden. 10 Jahre habe ich dort gearbeitet. Warum?
6. Wir wollen keine Kinder. Schaut wie ärmlich wir im Moment leben. Ich möchte nicht, dass mein Kind so ein schlechtes Leben hat wie wir.
7. Hey. Trink das! Es wird dir helfen alles zu vergessen. Auf Stalin!
8. Es leben eine ganze Reihe von Dieben in unserem Land. Wir alle wissen das, aber wir können es auch nicht ändern.
9. Warum sind Kunst und Kultur so wichtig? Warum sollte ich für diese Dinge Steuern zahlen?
10. Warum sind alle Menschen hier so traurig? Nun, ich werde von meiner Familie unterstützt und kann mir schöne Kleider leisten. Müssen sie deshalb eifersüchtig sein?
11. Ein Plan? Ich habe keinen. Ich weiss nicht, was ich nach der Schule tun werde ... Habe mich noch nicht entschieden. Mal sehen.
12. Alles wird teurer! Heizung! Wohnung! Auto! Nahrungsmittel! Internet! Das macht mich wahnsinnig!
13. Ja. Lettland ist ein kleines Land. Kann denn ein kleines Land stark sein? Lettland hat lange, schwierige Zeiten durchgemacht um unabhängig zu werden. Im 13. Jahrhundert fielen die Deutschen in Lettland ein, spatter folgten Polen, Dänen und Russen. Das Land war für viele Jahre vom Krieg zerstört, gab aber niemals auf. Erst am18. November 1918 erlangten die Letten endlich ihre Unabhängkgkeit und konnten sich eine freie Nation nennen. / Am 11. November 1919 bewiesen die Letten ihren Mut, als sie die viel stärkeren Bermont-Anhänger besiegten. Diesen Tag nannten die Letten den Tag des Bärentöters. / Zu Beginn des II Weltkrieges, als Sowjetunion und Deutschland das lettische Gebiet besetzten, schwand der Traum des freien Landes dahin. Aber die Letten erhoben sich wieder und am 21. August 1991 wurde die Unabhängigkeit Lettlands vollständig wieder hergestellt. Wir sollten nicht vergessen, wieviele Opfer dieses Land für seine Freiheit bringen musste. Wir leben nicht mehr im Krieg, aber wir fühlen uns immer noch nicht frei. Jedem von uns fehlen Eigenschaften wie Geduld, Mut, Tugend und Aufrichtigkeit, um unser Land zu schützen und zu pflegen.
Seite 6
1. Heutzutage leben in Lettland Menschen vieler Nationen. Ich denke, sie haben Lettland aus denselben Gründen gewählt wie ich. Es spielt keine Rolle, wo jemand herkommt und welche Hautfarbe er hat, aber wenn wir in irgendeiner Weise uns mit diesem Land verbunden fühlen, dann gehören wir alle zusammen, wie eine große Familie. Jeder, der hier lebt, ist verpflichtet, Lettland zu schützen und zu stärken. Wir können nicht anders als uns gegenseitig respektieren. / Hallo! Ich komme aus Afrika. Meine Frau ist Lettin. Ich möchte hier ein Unternehmen gründen. / Ich bin Lette. Ich lebe hier, um mein Land zu schützen wie es mein Großvater tat./ Hallo, ich bin aus der Türkei. Ich möchte den Letten meine türkischen Süßigkeiten vorstellen. / Ich komme aus Japan. Ich lebe wirklich gern hier. Ich habe sogar einige lettische Volkslieder gelernt. / Ich bin russischer Staatsbürger, aber hier geboren und aufgewachsen. Es ist meine Heimat und ich liebe sie.
2. Viele Menschen haben aufgegeben, einige von ihnen kämpfen aber immer noch. Sie snd nicht nur Letten, sondern stammen gleichzeitig jeweils auch aus einem anderen Land. Sie lieben Lettland. Und was mich betrifft? Ich will nicht aufgeben.
3. Ich zeichne weiter an der Geschichte, die ich begonnen habe, die Geschichte vom Bärentöter. Das Symbol der lettischen Tapferkeit.
4. Irgendwo sieht man immer jemanden lächeln, sogar in diesen schweren Zeiten. Dies ist eine Hoffnung. Es gibt uns die Kraft, uns nochmal aufzurichten
5. Und er, der Held meiner Geschichte, steht immer noch auf dem Sockel der Freiheitsstatue.
6. Dass er hier steht bedeutet, er kämpft und beschützt sein Vaterland. Ich glaube, jedermann in Lettland kann so sein wie er. Eines tages möchte ich Lettland als stark und glücklich erleben. / Viele Menschen verlassen ihr Zuhause mit Hoffnungen, einen besseren Ort zu finden um zu leben, zu arbeiten und eine Familie zu gründen. Der Weg, den ich gewählt habe, ist gar nicht einfach. Aber er führt mich zur Erfüllung meiner Lebensziele. Ich möchte den Bärentöter wieder auferstehen lassen im Herzen jedes Letten und so Lettland helfen. / Und dies ist meine Geschichte, vom Vietnamesen der in Lettland lebt.